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Menschenrechte: Die Niederlande setzen ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel

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Von ANJA MIHR

Es fing vor genau einem Jahr an, als im  November 2010 im NRC Handelsblatt ein Beitrag des Juristen Thierry Baudet von der Universität Leiden erschien, mit dem Aufruf, den Einfluss des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) einzuschränken.  Der Gerichtshof widerspreche dem demokratischen Prinzip der Niederlande, mische sich in ‚innere Angelegenheiten‘ des Rechtsstaates ein und bedrohe damit nicht nur das Souveränitätsprinzip des Landes, sondern sogar die nationale Identität.

Man wollte es kaum glauben, dass diese Ansichten von 2010 stammten und von einem Juristen aus einem Land, das für seine hohen Menschenrechtsstandards sowie deren Umsetzung weltweit bekannt ist.  In einem Land, in dem Freiheitsrechte gefeiert werden, Menschen bei schwerster Krankheit selbst über das Ende ihres Lebens entscheiden können und  in dem zuerst die gleichgeschlechtliche Ehe und das Adoptionsrecht eingeführt worden ist, verstören diese Töne. Umso mehr als die Kritik an den Straßburger Richtern soweit ging,  dass diese nicht darüber entscheiden sollten, ob es in den Niederlanden zwingend sein muss, einen anwaltlichen Beistand für Tatverdächtige bei einem Polizeiverhör dabei zu haben oder nicht. Der Gerichtshof habe sich ausschließlich um grundlegende und schwerwiegende Menschenrechte zu kümmern, und die seien in den Niederlanden nicht betroffen. Basta!

In den Monaten darauf lieferten sich Juristen, Menschenrechtsaktivisten und Politiker zuweilen polemische Debatten. Dabei ging es um demokratischen Prinzipien, um Souveränität und zu guter Letzt um das immer wieder umstrittene und vage formulierte Prinzip des ‚margin of appreciation‘ (Beurteilungs- und Einschätzungsrahmen) der Beschlüsse, das die Richter des EGMR häufig anwenden. Danach steht es im Ermessen der Mitgliedsstaaten, inwiefern und inwieweit sie die Beschlüsse und Entscheidungen umsetzen.

In der Folge wollte die konservative Minderheitsregierung der Niederlande den Gerichtshof dazu bringen, diesen Entscheidungsrahmen auszudehnen. Das neugegründete und von den Christdemokraten (CDA) geführte Ministerium für Sicherheit und Justiz (Ministerie van Veiligheid en Justitie) – ein Titel, der an die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts erinnert –  nahm sich der Forderungen der rechts-konservativen Ansichten einiger sehr weniger Befürworter des Einschränkung des EGMR an.

Von der Öffentlichkeit kaum bemerkt setzte der Minister, obwohl die klare Mehrheitsmeinung Baudets Ansichten für absurd hält,  eine Parlamentsdebatte zur Beschränkung der finanziellen Zuschüsse an Straßburg an. Es sollte eine Entscheidung herbei geführt werden, wonach es weniger Beiträge für Straßburg geben sollte, sofern der ‚margin‘ nicht erweitert würde und somit keine Einschränkung staatlicher Souveränität mehr darstelle. Die niederländische Juristenkommission erfuhr davon und intervenierte rechtzeitig. Die Debatte wurde daraufhin abgesagt, die Beschlussvorlage vorerst auf Eis gelegt. Vor einer Woche, am 27 Oktober 2011, schrieb die Juristenkommission erneut einen offenen Brief an den Minister mit der Forderung, derartige Drohungen gegenüber dem EGMR  auch weiterhin zu unterlassen.

Der demokratische Rechtsstaat wird vielmehr dadurch gewahrt, dass der EGMR die Menschenrechte in den Ländern wahrt und fördert. Die Standards des Gerichtshofs sind über Jahrzehnte von den Niederlanden mitgestaltet worden und werden nun aufs Äußerste in Frage gestellt.  Die Debatte ist noch lange nicht vorüber. Denn wenn morgen, am 7 November 2011, Großbritannien den Vorsitz im Ministerrat des Europarats übernimmt, wird die Debatte neu entfacht, und die Regierung der Niederlande wird an der Seite Großbritanniens viel daran setzen, die Einflusssphäre Straßburgs gering zu halten.

Rechtskonservative Stimmen bestimmen zunehmend die Debatten um Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit in den Niederlanden.  Der lange Arm der Regierung  äußert sich vor allem darin, dass Programme und Förderprojekte für Menschenrechte weltweit immer stärker an konservative und sich widersprechende Bedingungen geknüpft werden. Menschenrechte werden nicht mehr grundlegend gefordert, sondern relativiert, z.B. wenn es um China geht.  Innenpolitisch gelten Menschenrechte als umgesetzt, Kritik von außen ist unerwünscht und das Land schottet sich zunehmend ab, auch gegen die Einmischung und Kritik von der EU und den Vereinten Nationen.

Damit ist der internationalen Staatengemeinschaft ein wichtiger Förderer der Menschenrechte verlorengegangen. Das Land hat aufgrund seiner Politik der “nationalen Identität”  und seiner Haltung zu Internationalen Organisationen seine Glaubwürdigkeit verloren.  Gleichzeitig möchte die Regierung Den Haag als die ‚Stadt der Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit‘ weltweit positionieren, da sie Tribunale und den Internationalen Strafgerichtshof beherbergt. Vor kurzem ist dort das Haus für Demokratie und Menschenrechte eröffnet worden – aber eine Einmischung von außen wird dabei nicht erwünscht. Was Norm ist, möchte allein die Regierung bestimmen.

Zu befürchten ist, dass unter sich die Niederlande auch in den nächsten Jahren in zunehmenden Maße abschottet und (leider) nicht mehr konstruktiv zum Menschenrechtsdiskurs beiträgt. Die Glaubwürdigkeit des Landes steht in dieser Frage auf dem Spiel, nicht erst seit diesem Jahr.

Anja Mihr ist Professorin am Niederländischen Institut für Menschenrechte der Universität Utrecht. Von ANJA MIHR

Es fing vor genau einem Jahr an, als im  November 2010 im NRC Handelsblatt ein Beitrag des Juristen Thierry Baudet von der Universität Leiden erschien, mit dem Aufruf, den Einfluss des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) einzuschränken.  Der Gerichtshof widerspreche dem demokratischen Prinzip der Niederlande, mische sich in ‚innere Angelegenheiten‘ des Rechtsstaates ein und bedrohe damit nicht nur das Souveränitätsprinzip des Landes, sondern sogar die nationale Identität.

Man wollte es kaum glauben, dass diese Ansichten von 2010 stammten und von einem Juristen aus einem Land, das für seine hohen Menschenrechtsstandards sowie deren Umsetzung weltweit bekannt ist.  In einem Land, in dem Freiheitsrechte gefeiert werden, Menschen bei schwerster Krankheit selbst über das Ende ihres Lebens entscheiden können und  in dem zuerst die gleichgeschlechtliche Ehe und das Adoptionsrecht eingeführt worden ist, verstören diese Töne. Umso mehr als die Kritik an den Straßburger Richtern soweit ging,  dass diese nicht darüber entscheiden sollten, ob es in den Niederlanden zwingend sein muss, einen anwaltlichen Beistand für Tatverdächtige bei einem Polizeiverhör dabei zu haben oder nicht. Der Gerichtshof habe sich ausschließlich um grundlegende und schwerwiegende Menschenrechte zu kümmern, und die seien in den Niederlanden nicht betroffen. Basta!

In den Monaten darauf lieferten sich Juristen, Menschenrechtsaktivisten und Politiker zuweilen polemische Debatten. Dabei ging es um demokratischen Prinzipien, um Souveränität und zu guter Letzt um das immer wieder umstrittene und vage formulierte Prinzip des ‚margin of appreciation‘ (Beurteilungs- und Einschätzungsrahmen) der Beschlüsse, das die Richter des EGMR häufig anwenden. Danach steht es im Ermessen der Mitgliedsstaaten, inwiefern und inwieweit sie die Beschlüsse und Entscheidungen umsetzen.

In der Folge wollte die konservative Minderheitsregierung der Niederlande den Gerichtshof dazu bringen, diesen Entscheidungsrahmen auszudehnen. Das neugegründete und von den Christdemokraten (CDA) geführte Ministerium für Sicherheit und Justiz (Ministerie van Veiligheid en Justitie) – ein Titel, der an die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts erinnert –  nahm sich der Forderungen der rechts-konservativen Ansichten einiger sehr weniger Befürworter des Einschränkung des EGMR an.

Von der Öffentlichkeit kaum bemerkt setzte der Minister, obwohl die klare Mehrheitsmeinung Baudets Ansichten für absurd hält,  eine Parlamentsdebatte zur Beschränkung der finanziellen Zuschüsse an Straßburg an. Es sollte eine Entscheidung herbei geführt werden, wonach es weniger Beiträge für Straßburg geben sollte, sofern der ‚margin‘ nicht erweitert würde und somit keine Einschränkung staatlicher Souveränität mehr darstelle. Die niederländische Juristenkommission erfuhr davon und intervenierte rechtzeitig. Die Debatte wurde daraufhin abgesagt, die Beschlussvorlage vorerst auf Eis gelegt. Vor einer Woche, am 27 Oktober 2011, schrieb die Juristenkommission erneut einen offenen Brief an den Minister mit der Forderung, derartige Drohungen gegenüber dem EGMR  auch weiterhin zu unterlassen.

Der demokratische Rechtsstaat wird vielmehr dadurch gewahrt, dass der EGMR die Menschenrechte in den Ländern wahrt und fördert. Die Standards des Gerichtshofs sind über Jahrzehnte von den Niederlanden mitgestaltet worden und werden nun aufs Äußerste in Frage gestellt.  Die Debatte ist noch lange nicht vorüber. Denn wenn morgen, am 7 November 2011, Großbritannien den Vorsitz im Ministerrat des Europarats übernimmt, wird die Debatte neu entfacht, und die Regierung der Niederlande wird an der Seite Großbritanniens viel daran setzen, die Einflusssphäre Straßburgs gering zu halten.

Rechtskonservative Stimmen bestimmen zunehmend die Debatten um Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit in den Niederlanden.  Der lange Arm der Regierung  äußert sich vor allem darin, dass Programme und Förderprojekte für Menschenrechte weltweit immer stärker an konservative und sich widersprechende Bedingungen geknüpft werden. Menschenrechte werden nicht mehr grundlegend gefordert, sondern relativiert, z.B. wenn es um China geht.  Innenpolitisch gelten Menschenrechte als umgesetzt, Kritik von außen ist unerwünscht und das Land schottet sich zunehmend ab, auch gegen die Einmischung und Kritik von der EU und den Vereinten Nationen.

Damit ist der internationalen Staatengemeinschaft ein wichtiger Förderer der Menschenrechte verlorengegangen. Das Land hat aufgrund seiner Politik der “nationalen Identität”  und seiner Haltung zu Internationalen Organisationen seine Glaubwürdigkeit verloren.  Gleichzeitig möchte die Regierung Den Haag als die ‚Stadt der Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit‘ weltweit positionieren, da sie Tribunale und den Internationalen Strafgerichtshof beherbergt. Vor kurzem ist dort das Haus für Demokratie und Menschenrechte eröffnet worden – aber eine Einmischung von außen wird dabei nicht erwünscht. Was Norm ist, möchte allein die Regierung bestimmen.

Zu befürchten ist, dass unter sich die Niederlande auch in den nächsten Jahren in zunehmenden Maße abschottet und (leider) nicht mehr konstruktiv zum Menschenrechtsdiskurs beiträgt. Die Glaubwürdigkeit des Landes steht in dieser Frage auf dem Spiel, nicht erst seit diesem Jahr.

Anja Mihr ist Professorin am Niederländischen Institut für Menschenrechte der Universität Utrecht.

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