Quantcast
Channel: Niederlande Archives - Verfassungsblog
Viewing all articles
Browse latest Browse all 66

Wozu muss der Verlust der Unionsbürgerschaft verhältnismäßig sein?

$
0
0

Als Bürger der Europäischen Union darf mir die Bundesrepublik Deutschland nicht einfach meine deutsche Staatsbürgerschaft wegnehmen, ohne dabei zu prüfen, ob das zu den Folgen, die das für mich hat, in einem vernünftigen Verhältnis steht. Davor schützt mich europäisches Recht, dass mein Staat das mit mir macht. Das hatte vor acht Jahren im epochalen Fall Rottmann der EuGH entschieden.  Wird der Luxemburger Gerichtshof diese Rechtsprechung jetzt wieder relativieren? In diese Richtung scheint mir der Schlussantrag von Generalanwalt Paolo Mengozzi zu deuten, den dieser gestern im Fall Tjebbes (C-221/17) veröffentlicht hat.

In dem Fall geht es um drei Niederländerinnen, die plötzlich keine mehr waren: Frau Tjebbes hat als Halb-Kanadierin seit Geburt auch einen kanadischen Pass. Frau Koopman und Frau Saleh hatten einen Schweizer bzw. einen Iraner geheiratet, waren mit ihrem Mann in deren Heimatländer gezogen und hatten die dortige Staatsangehörigkeit erworben. Als sie 2014 beim niederländischen Außenministerium beantragten, ihnen einen Pass auszustellen, wurde der Antrag abgelehnt: Sie seien alle drei schon seit einiger Zeit kraft Gesetzes gar keine Niederländerinnen mehr. Das gleiche Schicksal traf auch die minderjährige Tochter von Frau Koopman.

Das Gesetz, auf das sich diese Rechtsfolge stützt, war 200o erlassen worden und sah vor, dass am 1. April 2003 eine Zehnjahresfrist zu laufen beginnt. Wer im Ausland (außerhalb der EU) lebt und während dieser zehn Jahre nicht entweder für mindestens ein Jahr in die Niederlande zurückkehrt oder sich zumindest seine Staatsangehörigkeit bescheinigen oder sich einen neuen Pass ausstellen lässt, von dem wird kraft Gesetzes angenommen, dass er keine oder nur noch eine sehr schwache Bindung zu den Niederlanden besitzt und damit kein Staatsangehöriger mehr ist. Wie es tatsächlich um die Bindung zum Heimatland bestellt ist, wird nicht im Einzelfall geprüft.

Die drei Frauen hatten die Frist verstreichen lassen, aus welchen Gründen auch immer. Kann das sein, dass sie als ausgebürgert gelten, ohne dass irgendwer diese krasse Maßnahme zu den Folgen für die Betroffenen ins Verhältnis setzt? Der niederländische Staatsrat legte daraufhin dem EuGH die Frage vor, ob das mit der Rottmann-Rechtsprechung vereinbar ist. Für Generalanwalt Mengozzi lautet die Antwort im Fall der drei erwachsenen Frauen (anders als für die minderjährige Tochter): Ja, das geht.

Eine Sache der nationalen Identität

Nach Ansicht des Generalanwalts kann es hier nur darum gehen, die Verhältnismäßigkeit der gesetzlichen Regelung als solcher zu prüfen, nicht aber um die Umstände des Einzelfalls. Zu welchen Umständen sollte man den Verlust der Staatsangehörigkeit auch ins Verhältnis setzen? Im Fall Rottmann sei das der Verlust der Unionsbürgerschaft und die Staatenlosigkeit des Herrn Rottmann gewesen, und selbst die hätten im Ergebnis nicht für eine Unverhältnismäßigkeit gereicht. Nur die unmittelbaren Folgen des Verlusts der Staatsangehörigkeit könnten in die nach Rottmann vorgeschriebene Verhältnismäßigkeitsprüfung eingehen, nicht aber mittelbare wie der verlorene Zugang zum niederländischen Territorium oder Sozialsystem. Deren Verhältnismäßigkeit sei im Verwaltungsverfahren um diese Zugänge zu klären und gegebenenfalls durch Sozialhilfe oder eine Aufenthaltserlaubnis herzustellen, aber nicht durch die Rückgabe der Staatsangehörigkeit.

Die Implikation, Verhältnismäßigkeitsprüfung heiße automatisch auch Einzelfallprüfung, lehnt Mengozzi aber auch aus grundsätzlichen Verfassungsgründen ab. Der niederländische Gesetzgeber habe sich entschieden, die Staatsangehörigkeit an bestimmte, konkrete Kriterien zu knüpfen: zehn Jahre Aufenthalt im Ausland, andere Staatsangehörigkeit, Frist versäumt – zack, Staatsangehörigkeit weg. Einzelfallprüfung heiße dagegen, dass andere Kriterien genauso zu gelten haben. Und die könne dem nationalen Gesetzgeber niemand vorschreiben, zumal die Entscheidung über Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit die Zusammensetzung des nationalen Gemeinwesens betreffe, und damit die nationale Identität.

Dazu komme die Rechtsunsicherheit, die entstünde, wenn die Gerichte jenseits der gesetzlichen Kriterien alles, was für oder gegen eine Bindung an das Ursprungsland spricht, zueinander in Verhältnis setzen und gewichten müssten.

Anders sei es aber mit der minderjährigen Tochter der Niederländisch-Schweizerin Frau Koopman. Dass die automatisch mit ausgebürgert wird, nur weil ihre Mutter sich nicht rechtzeitig gekümmert hat, sei in der Tat unverhältnismäßig. Minderjährige seien keine Unionsbürger minderer Ordnung, und sie auszubürgern, nur damit Familien staatsbürgerschaftsmäßig immer schön einheitlich sind und man sich auskennt – das gehe nun tatsächlich zu weit.

Ausbürgern von Falschparkern ist unverhältnismäßig

Was bleibt von dem in Rottmann gewährten supranationalen Schutz vor unverhältnismäßiger Ausbürgerung, wenn der Gerichtshof Mengozzis Linie folgt? Die Antwort gibt der Generalanwalt selbst:

So würde sich in einem extremen – und, wie ich hoffe, rein hypothetischen – Fall, in dem das Recht eines Mitgliedstaats die Rücknahme der Einbürgerung eines Einzelnen mit der Folge des Verlusts der Unionsbürgerschaft wegen einer Übertretung der Regeln der Straßenverkehrsordnung vorschriebe, die Unverhältnismäßigkeit dieser Maßnahme an dem Missverhältnis zwischen der geringen Schwere des Rechtsverstoßes und der dramatischen Folge des Verlusts des Unionsbürgerstatus zeigen. (RNr. 88)

Das ist insofern erst mal eine gute Nachricht, als das Thema Ausbürgerung politisch aktuell vor allem als Maßnahme zum Schutz der inneren Sicherheit relevant ist: Die Vorstellung, islamische Terroristen und ISIS-Kämpfer flugs zu Ausländern, wenn nicht gar Staatenlosen machen und das Problem von irgendjemand anderem sein lassen zu können, gefällt vielen Innenministern ausnehmend gut. Hier sorgt das Unionsrecht immerhin dafür, dass diese Art der Kriminalitätsbekämpfung zu Lasten Dritter innerhalb gewisser Grenzen bleibt. Das ist gut und wichtig, sicher mehr, als irgendwelche Expatriates vor den Rechtsfolgen ihrer eigenen Saumseligkeit zu beschirmen. Zumal es mit dem Willkürverbot, der Notwendigkeit eines legitimen Ziels und dem Schutz vor Staatenlosigkeit auch noch andere Ansatzpunkte gibt, nationale Gesetzgeber im Falle eines Missbrauchs ihrer staatsangehörigkeitsrechtlichen Möglichkeiten völker- und europarechtlich zurückzupfeifen.

Aber ich will mal ein anderes Gedankenexperiment vorschlagen. Sagen wir, der Mitgliedstaat Ungarn erlässt ein Gesetz, wonach alle, die durch den Entschluss zur Emigration mangelnde Bindung an ihren Staat vermuten lassen (im Unterschied zu den im Ausland geborenen ethnischen Ungarn), ein Jahr Zeit haben, einen Treueeid auf die ungarische "Osterverfassung" von 2011 zu schwören und, wenn nicht, ihre ungarische Staatsangehörigkeit und mit ihr die Unionsbürgerschaft verlieren.

Was wäre dann?


Viewing all articles
Browse latest Browse all 66